A little context if you care to listen - Neofiles 06/02/2023
Diese Woche: RAYE Albumreview, Berliner Rap und harter Techno.
Hallo und herzlich willkommen zur zweiten Ausgabe von Neofiles,
Gestern nacht wurden in Los Angeles die Grammys verliehen.
Nicht geschaut? Ehrlich gesagt auch nicht viel verpasst.
Auf Twitter wird gerade vor allem ein Moment diskutiert: Harry Styles setzte sich in der Kategorie “Album Of The Year” durch. Mit ihm nominiert waren diverse Künstler:innen von Kendrick Lamar und Bad Bunny bis hin zu Beyoncè und Lizzo. In seiner Dankesrede kam Harry Styles zu dem, ich sag mal interessanten Statement: “This doesn’t happen to people like me very often”. Was er mit damit meint, hab ich bis jetzt nicht herausgefunden. Wenn man sich die Gewinner:innen der letzten Jahre so anschaut, sticht Harry Styles dort nicht wirklich heraus.
Ob “Harrys House” wirklich besser als die Alben von Kendrick Lamar, Beyoncè & Co sind, bleibt letztendlich Geschmackssache. Zumindest für Beyoncè war es ja trotzdem ein guter Abend. Mit insgesamt 32 gewonnen Grammys, ist sie jetzt die erfolgsreichste Künstlerin in der Geschichte des Awards.
Aber genug zum Grammy Gossip, hier kommt die beste Musik der letzten Woche:
Albumreview: RAYE - My 21st Century Blues
Mit “21st Century Blues” hat die britische Sängerin RAYE am Freitag endlich ihr langerwartetes Debutalbum veröffentlicht. Den ersten Kontakt zu ihr hatten viele vermutlich in den letzten Monaten mit ihrem TikTok-Smashhit “Escapism.”. Den veröffentlichte sie als dritte Single des Albums schon im Oktober. RAYE ist aber keineswegs neu im Musikbusiness. Bereits 2014 unterschrieb sie einen Vertrag beim Plattenlabel Polydor Records. Ihr Ziel schon damals: ein eigenes Album veröffentlichen.
Das Label hatte aber zunächst andere Pläne. RAYEs Talent als Songwriterin führte dazu, dass sie von Studio Session zu Studio Session tingelte und Songs für hochklassige Stars, wie Beyoncé und Charlie XCX schrieb. Ihr Label drängte sie gelichzeitig dazu, sich in Richtung EDM zu orientieren und Dance Songs mit David Guetta, Jax Jones, Joel Corry und anderen international bekannten DJs zu releasen.
Während diese Songs teilweise zu großen Hits wurden, war es stets RAYEs Vision irgendwann ihr eigenes Album, in ihrem eigenen Stil zu veröffentlichen. Nachdem Polydor Records ihr nach einigen Jahren der Zusammenarbeit mitteilte, dass sie kein Soloalbum mit ihr herausbringen würden, trennte sich RAYE von dem Lable und ließ ihrem Frust über die Musikindustrie auf Twitter freien Lauf. Ihr Post bekam viel Zuspruch von Künstler:innen weltweit. Der schlechten Erfahrung entsprechend, bringt sie ihr Album “My 21st Century Blues” jetzt independent raus.
Das Album zeigt, welches Talent uns mit RAYE über die letzten Jahre verwehrt blieb. Nach Jahren der Zuarbeit für andere, kann sie ihre kreativen Ideen endlich voll ausspielen. Die Songs des Albums überschreiten fließend Genregrenzen. Trotzdem performt RAYE auf jedem absolut stilsicher und bringt ihre umwerfende Stimme zur Geltung.
Auch wenn das Album keine wirklich zusammenhängende Story erzählt, gibt es doch ein übergreifendes Konzept, dass die Songs verbindet. Die Idee erkennt man schon im Titel “21st Century Blues”. Dabei geht es weniger um Blues als Genre, viel mehr steht das “blues feeling” im Vordergrund. Ähnlich wie die Sänger:innen des Blues verarbeitet RAYE auf dem Album die Rückschläge und traumatischen Erlebnisse ihres Lebens.
Mit dem ersten Track “Introduction.” werden wir direkt in einen kleinen Jazz Club versetzt. Ein Mann betritt die Bühne und kündigt RAYE und ihre Band an. Daraufhin moderiert RAYE den ersten Song des Abends an: “Oscar Winning Tears.”, in dem sie die Situation einer Trennung besingt. Ihr Partner bricht in Tränen aus, doch RAYE durchblickt seine scheinheiligen Entschuldigungen und beendet die Beziehung.
"I'll take this front row seat and baby, baby you can go ahead cry those Oscar-winning tears"
Um Trennungen, (Ex-)Partner und toxische Liebe geht es auf vielen Songs des Albums. Auch der Hit “Escapisms.” beschreibt letztendlich die Gefühle nach einer Trennung, wenn auch aus der Perspektive einer durchfeierten Partynacht, in der man versucht negative Gedanken zu verdrängen.
Musikalisch schwankt das Album zwischen Jazz, RnB und elektronischen Sounds, wobei alle drei Elemente in verschiedenster Weise kombiniert werden. Das Instrumental von “Black Mascara.” kann man sich so auch in einem Club auf Ibiza vorstellen. Im “Blues Club” wirkt es hingegen ein wenig fehl am Platz. Auf Songs wie “The Thrill Is Gone.” gibt sie sich dafür voll und ganz dem Big Band Jazz hin.
Gegen Mitte des Albums öffnet RAYE weitere Themenbereiche. “Mary Jane.” ist ein Liebessong an die Drogensucht, auf “Ice Cream Man.” beschreibt sie eine Vergewaltigung durch einen Musikproduzenten. “Body Dysmorphia.” und “Environmental Anxiety.”, thematisieren, was die Titel vermuten lassen. Auf letzterem wird RAYE sogar ungewohnt politisch und beschreibt die Ohnmacht, die sie in Hiblick auf Klimakrise, Neoliberalisierung und autoritäre Herrscher verspürt.
"Classist, sexist, racist, ableist, facist, ageist, homophobic, country leaders fucked our futures and they think we haven't noticed"
Obwohl diese Lieder zur Mitte des Albums durchweg sehr starke Songs sind, verliert das Album hier doch ein wenig seinen Zusammenhang. Die Beziehung auf die großen politischen Themen ist durchaus wichtig, passt meiner Meinung nach aber nicht so richtig zu den restlichen durchaus intimen Thematiken des Albums.
Nach dem RAYE über elf Songs Seelenstriptease macht und ihre Struggles vor uns ausbreitet, findet sie zum Ende des Albums doch noch einen versöhnlichen Schluss. Die letzte Passage zeigt RAYE selbstbewusst. Schon zuvor merkt man in vielen Momenten des Albums, dass RAYE an den Niederschlägen und Herausforderungen nicht zerbricht, sondern an ihnen wächst. Dieses empowernde Moment spielt sie auf den letzten drei Songs voll aus und lässt uns, trotz der harten Thematik des Albums mit einem guten Gefühl zurück. “My 21st Century Blues” wird wohl eines der besten Debut-Alben dieses Jahres werden. Gerade, weil, RAYE sich dafür so viel Zeit nehmen musste.
Release Radar
Der Berliner Rapper Apsilon war letztes Jahr eine meiner liebsten Neuentdeckungen. Er verbindet politische Zeilen mit neuartigen Flows und rappt diese auf Beats von einigen der besten Produzenten Deutschlands. Songs wie “Sport” und “Druck” waren für mich Soundtrack des letzten Sommers.
Diesmal ist Apsilon auf dem Song “Blaurot” der nicht weniger fantastischen Rapperin Wa22ermann zu Gast. Darin beschreiben die beiden Künstler:innen auf einem melancholischen Beat eine nächtlichen Spaziergang durch Berlin. Beide glänzen dabei mit ihrer eigentümlihen Art mit Worten umzugehen.
"Yeah, tret' auf ein'n toten Traum, knirscht unter mein'n Füßen, die liegen hier überall rum, ich hoffe, dis' nimmt man mir nicht so übel."
Wa22ermann’s Debut EP erscheint nächsten Donnerstag.
Der Track “if you’re not the one” hat mich direkt beim ersten Hören gecatched. Über den Künstler “LEFT.” weiß ich kaum etwas. Seine Spotify Biographie hilft auch nur bedingt dabei weiter, mehr über ihn zu erfahren. Da stehen so Dinge wie: “LEFT. was declared the best artist ever at the ‘BEST ARTIST AWARDS 2022 ®’ hosted earlier this year in Antarctida.”
Anyways… der Song slapped auf jeden Fall. “if you’re not the one” verbindet popiges Sogwriting mit UK Garage Beats. Gefällt mir sehr gut!
Zum Abschluss noch einen Track für alle Techno-Fans. Ich freue mich immer, wenn der Name Boys Noize in meinem Release Radar auftaucht. Der DJ und Produzent steht wie kaum ein anderer für kompromisslosen aber experimentierfreudigen Techno.
Besonders gespannt war ich deshalb, ihn in Kombination mit Sega Bodega zu hören, der ebenfalls zu den interessantesten Produzenten derzeit zählt. Boys Noize’ Remix von seinem Track Kepko ist ein Technobanger, der sich Einflüssen aus Schranz und Hardstyle bedient, um einen Sound zu schaffen, der jeden Dancefloor zerlegen wird. Ich freu mich schon, das Ding mal in einem Club zu hören.
Bonus Tip:
Die neue Machiavelli Session bringt Loyle Carner mit Ansu zusammen, begleitet vom WDR Funkausorchester und ist absolut fantastisch, so wie jede Machiavelli Session bis jetzt.
Tipps für die nächste Woche
11.02.23: $OHO BANI @ SIMMCity Wien
$OHO BANI hat sich mit seinen letzten Releases als eine Größe des Berliner New Wave Raps etabliert. Sein TikTok-Auftritt, sowie Kollaborationen mit BHZ und 01099 halfen ihm dabei. Wer Fan der beiden Bands ist, wird auch bei $OHO BANI Spaß haben.
11.02.23: KETTAMA @ Pratersauna Wien
Der irische Produzent und DJ aus Galway ist bekannt für treibenden Sound irgendwo zwischen House und Techno. Diesen mischt KETTAMA mit Samples aus den unterschiedlichsten Genres zu Sets, die trotz repetitiven Beats nie langweilig werden.
Das war die zweite Ausgabe von Neofiles. Ich hoffe sie hat dir gefallen. Für Feedback, Anregungen und Musikempfehlungen (letzteres besonders gerne) kannst du gerne auf diese Mail antworten oder ein Kommentar da lassen.
Bis nächste Woche,
Dein Jannik.